Dangast 2

 

 

23.10.2020, Frei-Tag 

 

 

21/ Ein Hotelzimmer in einer anderen, am besten unbekannten Stadt vermittelt – das gehört zu den großen Vorzügen – Distanz zu all dem Erleben zuvor. Und somit neue Orientierung.

 

 

22 / Erinnerung an Menschen, die nicht fragten, was in dir sei, sondern gleich beurteilten, verurteilten, naturgemäß perspektivisch und falsch, das heißt ungerecht.

 

 

23 / Du warst jemand, der sich von vornherein in der Familie ausleben durfte. Von daher gab es dann Schwierigkeiten mit Um-Welt. Auch die, empfundenermaßen, nicht genug Aufmerksamkeit jenseits der Familie zu bekommen. Und vor allem die der Grenze. Und die der Selbst-Verantwortung. Das war dann bitter zu erlernen. Und gab zugleich Zeugnis darüber, wie die Gesellschaft, in die du hineinwuchst, gebaut war.

 

 

24 / Morgenfrühe. Nebel. In dem unbekannten Ort. Farbiges Herbstkleid der Bäume. Mittelalterliche Kirchenmauer. Kopfstein. Junge Läden. Das Selbst-Neusein. Welche Verheißung es war in Kindheit und Jugend. Und heute noch kommt etwas davon herauf.

 

 

25 / Ausgedehntes Frühstück. Rundum Glas und viel Raum, auch das Dach aus Glas. Wohlige Strahlung der Bedienung. Erinnerung an einen 'Flüchtling', ungeheure Wachheit und Furcht, als ein Mensch sich näherte, die Wachheit des Erschrockenseins wie ein Vogel, der um sein Leben davonfliegt.

 

 

26 / Mittag. Dangast. Mit einer bestimmten Erinnerung kam etwas, das bei bestem Willen nicht vermittelbar ist. Augenblicklich war es so, dass du keinen Menschen mehr vor Augen haben konntest. Als brennte die Wahrnehmung durch bis hin zu einem ätzenden Gerippe. Ihr gingt auf dem Deich ohne Weggrenzen; eingezogen in Grün, der ganze Deich. Watt und Wasserglitzern. Ab und zu lugte die Sonne durch einen Spalt, von Wolken freigegeben, und tauchte die Landschaft in ein neues Licht. Wilhelmshaven am andern Ende des Meeres war zeitweilig verschwunden in einem changierenden Gemisch aus Nebel und Licht. All das erschien dir, ausgelöst durch diese Erinnerung, wie eine nochmals neue Kunst. Schafe in unmittelbarer Nähe auf dem Deich. Zufrieden gefressen, wollig, aber nicht für die Hand eines Menschen. Nähert sich eine solche, bekommt sie es mit den Reflexen des Schafes zu tun, sofort weg. Viele Schafe auf dem Deich, keines davon stört, wie anders wäre es, wenn da anstelle von Schafen Menschen wären.

 

 

 

27 / Franz-Radziwill-Haus. Haus des Malers, in dem er 60 Jahre lebte, 60 Jahre. Bilder, die beeindruckten, manchmal berührten. Radikaler Umweltschützer. Schritt schon ein, wenn Blumen gepflückt wurden. Und vor deinem Auge erstand eine menschliche Existenz, ein Bewusstsein, das sich dem Malen und der Achtsamkeit gewidmet hatte, einer heiligen Naturverbundenheit am Meer. Auffällig auch die selbstgezimmerten Rahmen, wie ideal sie zu den Bildern passen. Der Geist dieses Lebens hier, in diesem Haus, schien dir noch fühlbar. Doch alles, was die Hausverwalterin über die Nazi-Vergangenheit des Malers sagte, klang nicht gut. Und plötzlich: Vermischung von Horizonten, die tiefe Verstörung ergab.

 

 

28 / 60 Jahre am Meer leben und künstlerisch tätig sein.

 

 

29 / Altes Kurhaus, Dangast. Großer Saal. Inspirierende Gemälde. Hohe Wände. Keine Nischen. 7 Stunden am Tag draußen, es wurde zu viel. Augenreizung, Ausdruck von Konstellationen im Nervensystem. Es war so, als seien immer mehr Schutzschichten im Innern »wie Platten« abgebaut worden, bis eine Reizung, ein Schrei, ein Nicht-mehr-Können blank lagen. Wie eine tobende Irre oder ein tobender Irrer auf engstem Raum, etwas dieser Art. Und jeder weitere Reiz, wenn es kein freundlicher war, verstärkte dies. Es ginge in solcher Situation darum, sich zu entfernen und »Augen zu schließen«. Stattdessen: in dem schönen Kurhaus, in dem aber die Geräusche ohne Abfederung ineinander schlugen und lauter wurden – nachtschwarze Scheiben verstärkten dir den Eindruck des Gespenstischen –, darauf zu warten zu zahlen. Ein Kellner zuständig für den ganzen Saal. Rannte geradezu mit einem Essen nach dem andern zu den Tischen. Keine Zeit, um ein Bezahlen entgegenzunehmen. 'Plötzlich' wieder Wut über solche Organisation: die Geldverdiener im Hintergrund nicht greifbar. Das Übliche. Das Schloss. Dann dieser 'Trinkgeldzwang', der dir nur zu kaschieren schien, dass auch diese Menschen viel zu viel arbeiten müssen und viel zu schlecht bezahlt werden! Bei all dem wurde die Reizung immer gereizter, die Wunde immer wunder. Sodass die Lösung aus dem Blick geriet: nämlich dies mit der Partnerin zu kommunizieren, um wenigstens keine innere Trennung zu ihr, flankiert von Missverständnissen, zu riskieren. Die Reizung, die Wunde, welche Wunde? Zu Tode gehetzt worden zu sein.

Wundreste, noch immer.

 

 

30 / Die Hand des andern fühlen, wenn man schon nicht sehen, ihn nicht ansehen kann. Das Motiv des Geblendetwordenseins. Dankbar für verstehende Zärtlichkeit.