sei mein Schicksal aufgelöst
in das unbegreifliche Beruhen
(Rilke)
Es waren drei Seminartage zu Wachstum und Identität, zu Dissoziationen und Integration. Ja, ich hatte in der Abschlussrunde erstmals in diesem Radius darüber gesprochen, dass mir „irgendwann“ im Leben etwas zugestoßen; dass es dem Täter-Opfer-Kontext zugehört, ich selbst das Wort „Opfer“ – auch – nicht möge, aber zur Kennzeichnung dienen kann. Dass ich mich hier wohlgefühlt habe, zum anderen aber mir auch über-deutlich ist, dass – noch immer – viel zu verarbeiten, zu erschließen ist. Ängste würde ich das nicht nennen – auch nicht Furcht –, ich habe keine Angst, es ist anders. Wahrscheinlich so, wie es noch nicht herausgefunden wurde und ich dabei bin, es herauszufinden. Ja, ich hatte darüber gesprochen, dass ich angetan bin von der theoretischen Fundierung der Seminarleiterin und dies sage, weil es für mich wesentlich ist, mich in der Tiefe des Denkens auf jemand verlassen zu können. Und hatte gesagt, was dann viele – mit ihren Worten – sagten, kaum je solche Dichte und Fülle erlebt zu haben, die zur Liebe hinführen kann, universell wie für jeden Einzelnen, und jetzt kaum wisse, wohin damit - - So war ich beinah froh, dass das Seminar nicht mit dem Tanz des Kreises endete, wie es begann, sondern endlich an die Luft nach draußen drängen konnte. Und fast am Ausgang angelangt, öffnete sich eine Tür und jemand – eine Frau, vielleicht etwas jünger als ich – stand frontal vor mir, mit der ich in der angedeuteten Weise mehrmals getanzt hatte. Ich sagte, weil ein „Tschüs“ zu wenig schien, dass so gute Energien in dieser Summe jetzt verkraftet sein wollen, nicht? Und hörte, dass nach solchen Tagen in der Nacht Buch und Stift neben ihr liegen, um aufzuschreiben, was die Erregung nicht loslassen will, um nicht bis in den Morgen hinein wach zu liegen und schlafen zu können. Damit hatte sie, ohne es wissen zu können, einen Kern meiner Existenzform getroffen, und als ich den Kopf hob, um eine Antwort zu überlegen, kam eine recht junge Frau auf mich zu und sah mich an, als würde sie mich – nicht nur kennen, sondern – erkennen. Sie strahlte, sie leuchtete, ihre GANZE Person war davon durchdrungen, es war kein herkömmliches Strahlen, kein sehr bekanntes Leuchten. Dieser Mensch war GANZ offen, GANZ Liebe, und das Erkennen in ihren Augen war so irritierend, dass ich überlegte, wer könnte das sein. Ganz entfernt erinnerte ich Menschen, mit denen ich einmal vertraut gewesen war oder sich ein Vertrauen angebahnt hatte, das nie erweitert worden war, und schloss nicht aus, dass da jemand hineingekommen war, am Ende der Veranstaltung, den ich aus ganz anderer Zeit kannte und sich eventuell sogar auf den Weg gemacht hatte, um mich eigens zu sehen. So wirkte es. Ich kam jedoch zu dem Schluss, dass ich die Person nicht kannte, und war nicht einmal sicher, ob es eine Seminarteilnehmerin war, auch deswegen, weil bereits Menschen eingetreten waren, um den Raum offenbar anderweitig zu nutzen, und wenn es eine Seminarteilnehmerin war, wovon ich zunächst ausgehe, dann gehörte sie zu den wenigen, mit denen ich nicht getanzt hatte und bei einer Näherung gedacht hätte, wie es anderweitig vorgekommen war, „zu jung“, „zu schön“, um mich eher einer reiferen oder reifer anmutenden Teilnehmerin oder einem Teilnehmer zuzuwenden. Auch sie hatte sich in drei Tagen mir nicht gezeigt. Dieser Mensch umfing mich, in dem sie – voller Glück – beide Arme um meinen Hals legte und mich so an sich drückte, wie es selbst in dieser Seminaratmosphäre unüblich. Ich hob nach langer Zeit des Ineinander-Versunken-Seins, in der ich ihren Körper so vibrierend, in unzähligen wundersamen Einzelbereichen, als bildeten sie eine nicht zerstörbare Einheit, gespürt hatte, den Kopf und sah in ihre Augen. Ganz nah. Und es entstand ein Augen-Raum, ein Raum durch die Augen, bei dem Beschreibung so kläglich zurückzubleiben hat. So sensibel, wenn ihre Augen sich kurz schlossen und wieder öffneten, ich spürte, dass es bei mir ebenso ist und merkte, dass da ein Raum entstanden war, wie soll ich denn sagen, ein Raum – ich empfinde Scham, dies zu sagen – unendlicher, absoluter Liebe. Quellen, die durch Körper und Psyche, durch diesen Raum verliefen, als könnten sie nie wieder versiegen. Ein erlösendes Wohlsein. So standen zwei Menschen da, mitten im Raum, mitten auf dem Flur, von vielen umgeben, die sich zum Teil vorbeidrängten oder versuchten, einen Blick von dem zu nehmen, was da gerade entstand. Wie ich es in mir so gut kenne, kamen nun die Gedanken vom entgegengesetzten Pol und versuchten, was sie immer versuchen, die Situation zu zerstören. Ich registrierte die Keime und Kerne solcher Gedanken und, dass diese Keime sofort erlahmten und keine Chance mehr hatten in diesem hermetischen Raum, der zugleich UNENDLICH GEÖFFNET. Als sie und ich noch einmal ineinander versanken – Körperteile wie Flusslandschaften, wahrscheinlich nie gesehene Ufer an einer zart fließenden Strömung, es war eine Umarmung, in der ALLES pulsierte, als sei in ihr alles durchdrungen noch von einer einzigen Substanz –, bemerkte ich wie an einem fernen Rand, dass jene Frau, die von ihrem Schreiben in der Nacht gesprochen hatte, gegangen war, was mir wahnsinnig leid tut. Es suchte in mir indessen nach Gründen, warum, warum ich? Warum wandte sie sich mir und nicht einem andern zu? Es hatte sich doch nichts zwischen uns aufgebaut. Konnte es eine andere Erklärung geben als die, dass sie sich darauf, was ich in der Abschlussrunde gesagt hatte, bezog? Dass sie mich in diesen Worten und vielleicht im Dabei-Ansehen, ohne dass ich es bemerkt, erkannt hatte? Oder war sie „einfach glücklich“ und wollte das Glück mit jemand, der dafür gerade geeignet erschien, teilen, vermehren? Ihre Durchdrungenheit von dieser Substanz, die im Raum zu zweit dann noch anders, spezifisch erscheint, hatte sich ja über drei Tage ganz ohne mein Zutun aufgebaut. Und hing doch an Menschen, die sie entscheidend mitermöglicht hatten. Ich schließe keinesfalls aus, dass ich eine kurze Station auf dem Weg eines Glücks war. Eine Möglichkeit, eine von vielen, es auszudrücken. Nicht mehr und nicht weniger. Dagegen bzw. darüber hinaus spricht die Art, wie sie auf mich zukam, ich fühle mich nicht so schnell gemeint – weil ich gespeichert habe, all die Situationen, in denen ich es für möglich gehalten hatte, gemeint zu sein, und nicht gemeint gewesen war –, aber ich schien gemeint. Ich nehme also zunächst einmal an, dass sie sich – als Auslösung für ihr Verhalten, das so gar nicht „überspannt“ war – auf das bezog, was ich erstmals über mich selbst ausgesagt hatte. Und dabei hatte eine Ahnung entstehen können, wie gequält mein Leben ist, um was ich zu ringen habe. Möglicherweise gab es Verwandtes in ihr. Es tat sich noch einmal dieser Augen-Raum auf, lange, lange Zeit, und sprach etwas mit einer Stimme, die ich von sehr fern aus vergessenen Liebessituationen höchster Intensität erinnerte, und sie antwortete mit einer Stimme, ergriffen, die passend dazu erschien. Die nichts von Täuschung und bloßer Angleichung haben konnte. Ich überschätze das nicht. Es ist auch diesbezüglich zu viel in meinem Leben zerbrochen, ganz und gültig zerbrochen, ich überschätze es nicht. Es waren Stimmen eines höchsten Erkennens, aus einer seltenen Gnade gemacht. Stimmen, mit denen die Engelvorstellung zur Menschheit gekommen sein musste .......
II
Auf dem Heimweg begann es zu schneien.
Schneefall – als fließe meine einstige Zärtlichkeit vom Himmel auf die Erde. Als würden damit die Toten erweckt.
Dieses augenblickliche Erlahmen der zu bloßen Keimen gewordenen Untaten, die ein Leben so attackiert hatten, –
Es war, als habe sie gesprochen, in Worte übersetzt, ich liebe gerade – und gerade vor allem dich
Teile der Nacht verbrachte ich in einer Konstellation von Sternen, es wurde nicht ganz bewusst, aber schien schwach, genügend deutlich durch. Das mag als Klischee erscheinen, mir ja auch, als obsoleter Topos, Literaturwissenschaftlern gar als Stilmittel ... doch im Nachttraum war das so und ganz real
auch erreichten mich lauter Arme
ich ließ mich rückwärts fallen und da fing mich jemand auf
ich sah meine Mutter plötzlich in einem solchen Jubel im Traum
ich trat ins Leere und da war Glück
III
Es gab NICHTS (MEHR) ABZUWERTEN. Da waren zwei Menschen in ihrem Wollen, in ihrem Begehren, in ihrem Geschlecht, in ihren Wünschen, in ihrem Mensch-Sein GANZ aufgegangen und hatten alles weit hinter sich zurückgelassen.
(leider) gehört auch dazu, dass es ein wirklich passender Mensch zu sein hat. Alle andern waren ebenso einbezogen wie ausgeschlossen. Nur deswegen, weil so etwas zu dritt schon nicht mehr, nicht so, möglich ist. Nur deswegen.
atmeten ein GANZES LEBEN aus
und es wurde Schönheit und es war nicht mehr endend wohltuend –
Wie ich blühe, wenn ich wirklich, wirklich gewollt werde
IV
Als ich diesen Text geschrieben hatte und vom Bahnhof, aus dem Bahnhofscafé herauskam und in einen hellen Februar-Nachmittag eintrat, sah ich gleich – nicht wie sonst, mit Distanz und Zögern, wenn überhaupt – auf die Bahnhofsuhr, um nicht zu spät zum Unterricht, den ich gelegentlich gebe, zu kommen. Gleich der Gedanke – wohl ausgelöst durch die Unmittelbarkeit eigenen Schauens –, alles für einen Menschen zu tun, waren falsche Wege, aber vielleicht, unter neuer und anderer Voraussetzung, sind es doch die richtigen.
Als ich das Radio im Wagen einschaltete, wie aus einem Reflex, aus einer Erwartung, die nicht erfüllt werden kann, fröhliche Stimme einer finsteren Manipulation, die genau weiß, was sie tut, und zugleich – infolge einer grundgelegten Abwesenheit –, wie so viele, nicht weiß, was sie tut.
V
Der Kern der Erfahrung ist, dass ich glaubte, ihre Liebe erfasste auch den Teil in mir, der – wie lange schon? – seit vier Jahrzehnten so allein ist. Und bei dem ich aufgegeben hatte – begründet, nach so vielen Erfahrungen, so viel Einsatz –, er könne gemocht, ja geliebt werden. Vielleicht ging das nur deswegen, weil wir uns – in dem Sinne – nicht kennen. In dieser Unschuld. Ich habe mich für ein paar Momente GANZ geliebt gefühlt.
ganz ?
es hatte sich doch gar nichts aufgebaut.
weder sie noch ich hatten doch
gar nichts ermessen können.
und doch war es wie
nach ALLEM, das einmal zutiefst gewusst und glücklich vergessen worden war.
So sehr, dass sich kein Bedürfnis einstellt, sie wiederzusehen, weil ich mich – mit dem Moment der Trennung – dem nicht mehr gewachsen fühle, und weil es keine Steigerung, keine Wiederholung geben kann.
VI
Ein paar Tage nach diesem Ereignis saß ich morgens am Fenster. Mit den Zweifeln, die kamen, wie zurechnungsfähig meine Wahrnehmung sei, ging es wie mit den Gedanken vom entgegengesetzten Pol in der Situation selbst, sie drangen nicht durch, lösten sich bereits im Ansatz auf. Wie diese Erfahrung auch zu sehen ist, was sie auch empfunden hat und in mir gesehen haben mag, in mir war das jetzt noch da, und zwar so stark, als würde es bleiben. – Was mir einst zustieß, es ist – auch noch – von der Art, nicht darüber weinen zu können. „Tränenloses Weinen“, das kenne ich so gut. Und kommt nur jemand hinzu, verzerrt es, wird noch das verstellt, verdorben, sodass niemand drauf kommen kann – darum scheint es dieser Wunde zu gehen –, was sich in mir tut. Und an diesem Morgen kamen sie plötzlich über einen noch immer sehr stolzen – ein hochkomplexer, nicht einfach zu verstehender Stolz, falls es überhaupt so etwas ist –, über einen sehr gehärteten – eine nicht einfach zu verstehende Härtung –, über einen Zustand, die Härtung ist ein Bereich, es gibt vor allem Gegenseiten, das unendlich Weiche, es gibt so viel, sie kamen über ein Leben, das eigentlich verlöscht war, und sich dennoch weitergetrieben hatte, J a h r e, J a h r e, durch endlose Labyrinthe der Aussichtslosigkeit gegangen, es kamen – Tränen.