Die Pole

sind in uns,

unübersteigbar

im Wachen,

wir schlafen hinüber, vors Tor

des Erbarmens

 

(Paul Celan)

 

 

Es war besonders anregend gewesen. Und wartete nun, bevor es weiterging, an den Schrank herantreten zu können, vor dem sich zwei Frauen befanden. Die Gruppe ist nicht klein, die Aufenthaltsräume sind nicht allzu groß. Da hörte ich zwei Wörter, die von der einen zur andern Frau gesprochen wurden, und zwar die beiden Wörter „Außenseiter“ und „verrückt“. Der Ton, in dem dies gesagt wurde, war spielraumlos, ernst und definitiv. Die Reaktion des Gefühls war Erzeugung ‚unvorstellbarer‘ Gewalt-Dichte, als ein Bestandteil davon Abwehrreaktionen. Und erinnerte sofort die Begebenheiten in meinem Leben, als nach so viel Hoffnung eine „Welt unterging“, als solches erstmals dabei war, sich in mir jeweils gültig zu realisieren.

 

Nun konnte es ja sein, dass die Frau von einer schwer wiegenden biografischen Begebenheit gesprochen hatte oder ein Ereignis aus den Medien geschildert und kommentiert hatte oder sonst etwas. Ich hatte aber nichts davon mitbekommen und erinnere mich auch nicht, dass vorher überhaupt etwas gesprochen wurde. Ich hatte einfach ganz versonnen da gestanden. Aber erinnere, dass das Sprechen der einen Frau zur andern mit diesen Worten endete und ich nun an den Schrank konnte, um mir eine Tasse für Tee zu nehmen. Ich war enttäuscht, darüber, dass solche Worte an diesem Ort, mit diesen Menschen, überhaupt fielen. Die Teilnehmerin, die solches äußerte, war mir und anderen zuvor aufgefallen, als sie in der Runde gefragt hatte, wie sie sich beim Tanzen vor dem grassierenden Grippe-Virus und überhaupt vor Krankheit schützen könne? Und es hatte gutgetan, die Antwort der Seminarleiterin – mit spürbar ironieartiger Empörung –, dass jedenfalls sie keine Furcht habe, sich einen Virus dgl. einzufangen, welcher Art er auch sei. Schon diese Frage der Teilnehmerin hatte mich enttäuscht, weil ich dachte, es gehe hier ... nur um die Entfaltung von Potenzialen, um Möglichkeiten von Nähe und Liebe oder Liebe-Vollem. Mir wäre nie ernsthaft in den Sinn gekommen, mich hier vor einem Grippe-Virus zu fürchten, und wenn schon, wenn ich oder jemand sich etwas dieser Art einfinge, ja, und? Und dachte nun, dass jene Frau, deren Namen ich nicht einmal kannte, vielleicht eine furchtbare Erfahrung gemacht hatte, sodass sie sich vor „allem Möglichen“ – sozusagen metonymisch – fürchtete. Wer so viel Krankheit abzuwehren hat oder meint, sie abwehren zu müssen, war er selbst nicht einmal sehr „krank“ gewesen? Wie dem auch sei, sie hatte eine sehr wunde Stelle getroffen. Nämlich diejenige in mir, 1. in einer Früherfahrung radikal ausgegrenzt und misshandelt worden zu sein, 2. noch heute mitunter unsicher zu sein über das eigene Begegnungs-Verhalten, weil es „Folgeschäden“ gab, also mein Verhalten bis heute „Abweichungen“ zeigte. Was wohl die Voraussetzung dafür ist, dass diese Worte überhaupt greifen konnten. Ich hatte also einmal mehr festzustellen: Das Stigma hatte sofort die Gelegenheit ergriffen, sich von Neuem zu realisieren. Und zwar in einem Moment, als es ‚sonnig‘ erschien. Klassischerweise. Und: Das Stigma bzw. das Gefühl fragt nicht danach, ob die erhaltene „Botschaft“ realistisch war – das kannte ich „zu gut“ –, ich fragte vielfach danach ..., aber das – mein – Gefühl war nicht mehr wirklich empfänglich für positive Antworten (zumal ich auch nicht wusste, was wie wem gegenüber gemeint gewesen war), es war augenblicklich nur in einen „tödlichen Mechanismus“ eingerastet. Von Neuem wurde ich für etwas „bestraft“, was ich nicht verursacht hatte (sieht man von der Theorie ab, dass jeder „alles“ selbst verursacht), als hätte ich nicht genug gelitten. Und als ich mich in dieser Verfassung mit dem Tee, den ich mir inzwischen aufgeschüttet hatte, zu einem anderen Raum hin bewegte, schaute B Kontakt aufnehmen wollend zu mir hoch, auf einer Matte auf dem Boden sitzend und meditierend, aber Furcht schnellte nun so gewaltvoll in mir hoch, in der ihr eigenen Höchstverdichtung und Höchstgeschwindigkeit, dass sie allenfalls noch einen Schemen von meinem Gesicht mitbekommen haben konnte, an diesem so bewussten Ort. So augenblicklich ansteckend war das –

  

Der Mechanismus signalisierte, diese Erfahrung hier – an diesem Ort, und wie viele weitere Teilnahmen waren geplant – ist zu Ende gegangen. Sie bedeutete für mich: Mein letzter ernsthafter Näherungsversuch einer Gruppe. Der Mechanismus, was anderes kann er nicht, signalisierte den Tod. Die Verhinderung.

 

 
„Diese Art Ausschluss vom Kollektiv, wie Sie sie damals erfahren 
haben, erlaubt keine wirkliche Rückkehr, gleichgültig, welche Gruppe
sich irgendwann anbietet, allenfalls ein forciertes Erlebnis resp.
Wollen, das früher oder später umschlägt und die alten Wunden
wieder bluten lässt.“

(Ulrich Schödlbauer)

 

 

Ich bin es nicht mehr gewohnt, „zu verlieren“. Und nicht mehr gewohnt, zu weichen. So blieb ich. Die Hälfte des Wochenendes stand noch bevor. Es war erst mein zweites Wochenende dieser Art. Beim ersten Wochenende hatte ich mit der Frau, die nun solches gesprochen, recht innig getanzt. Und sie hat, wie ich bereits wusste, auch ganz andere Anteile. Das erschien wie aus einer anderen Welt. Was aber dafür sprach, dass ihre Worte gar nichts mit mir zu tun gehabt hatten. Wie gesagt, das einmal zugerichtete Gefühl glaubt augenblicklich, wenn etwas Derartiges geschieht, nichts mehr.

  

Ich merkte – auch das war mir prinzipiell bekannt –, dass nun hirnphysiologisch tief eine wilde Kraft in mir angelegt war – sie war schon vorher angelegt gewesen, aber nicht in diesem Grad an diesem Ort –, die bei jedem Begegnungsfetzen angerührt wurde und keine Ruhe gab. Die den Aufenthalt in sich selbst unter Menschen extrem erschwerte. Im Grund stetig eine Leistung abverlangt, gegen das Angelegte, um nicht in jedem Moment in Schmerz und Verzerrung „vor allen Augen“ zu geraten. Lässt man sich darauf ein, gegen diese Anlage vorzugehen – nichts ist da verständlicher –, steht keineswegs ein glücklicher Ausgang in Aussicht, denn es kann keine „Wiederherstellung des Zustands“, wie er zuvor war, geben. Allenfalls etwas Neues, das nicht absehbar, zuhöchst Unbekanntes. Dahinter steht jedoch die „Figur“ der Verfolgung, des Zu-Tode-gehetzt-Werdens, was es anfänglich war. So ist darauf zu achten, nicht in weitere Fallen zu gehen, zum Beispiel in die des Haderns – etwa damit, dass relative „Dummköpfe“ es einst schafften, einen so komplexen psychischen Mechanismus bzw. Aufwand gegen sich (oder für sich) auszulösen. Eine weitere Falle ist die der Verächtlichkeit, so ist zu verzichten auf ein Wort wie „Dummköpfe“, es beschädigt und degradiert vor allem den Sprecher selbst.

  

Alle Teilnehmer formten sich von Neuem zum Kreis, nahmen sich bei der Hand. Sahen sich gegenseitig bewusst an, setzten sich in Bewegung. Wie sehr wurde meine – wie gesagt wird – „Lebensqualität“ verschlechtert. Es begannen Tänze, in denen jeder zunächst für sich war, die zunehmend wilder wurden. Ja, magisch, gar gewollt „hexenartig“ die wildesten Energien – auch und gerade das Böse, einfach alles – hervorkitzelten. Schließlich bewegte man sich zu zweit, einander gegenüber, mit Auswüchsen und gegebenenfalls Schreien, die ein hier ungekanntes Ausmaß annahmen. Mit dieser Energie, die ausgelöst wurde, schien ich da gerade richtig. Und entfesselte Kräfte, unter Schmerz und Empörung und was alles noch, von denen ich selbst allenfalls wusste, dass sie in diesem Ausmaß und Grad existieren konnten. Danach kamen Tänze, in denen wieder jeder für sich war und zugleich Teil einer Gruppeneinteilung, Tänze, die Anlass sein konnten, immer mehr in den persönlichen wie kollektiven Sternenhimmel zu greifen … Und fand mich in einer Ekstase, die ich – so – nicht gekannt hatte. Ich geriet energetisch in endlose Höhen des Bewusstseins. Und jede Faser meiner Energie war echt. Welchem Pol sie auch angehörte.

  

die ‚akute Diskriminierung‘

hatte Kontrast evoziert

mein eingebundenes Dasein einst

solche Hoffnung

solche

Liebe

so viele Versuche          

Bewegtheit

  

Wie alle andern stand ich nun einigermaßen in Schweiß da. Die Musik wurde bewusst ausgesetzt. Für lange Momente der Besinnung und Bewusstwerdung. Stille. Und es setzten Klänge ein, so sensibel, so berührend, dass ich nochmals einen Umschlag in andere, ungeahnte Richtung erlebte. Es liefen plötzlich Tränen an meinen Wangen herunter, Tränen aus einem realisierten Bewusstsein, was mir angetan worden war und welche Folgen das gehabt hatte. Ich bebte im Innern, die zarteste Stelle war plötzlich berührt worden. Die Gegensätze fielen zusammen. Als ein Ganzes, was es doch einmal gewesen war, bevor es auseinanderfiel. Die Tränen stürzten nun aus meinen Augen und es war keine Beruhigung abzusehen. Im Gegenteil. Dieser „Punkt“ schien noch lange nicht erreicht. Ich sah mich als Kind und Heranwachsender, mit den hellsten Sinnen, in so vielerlei schönen Kontakten und ohne jeden Ansatzpunkt von „Störung“. Ich durchlief prinzipiell vollständig noch einmal die Qualen, die nicht mehr aufgehört hatten, sich als eine Dimension von Dasein im Grunde stetig zu steigern. Und kaum anderes waren als ein Zu-Tode-gehetzt-Werden über Jahrzehnte. Jeder einzelne Moment – eine nicht endende „Ewigkeit“. Was für ein Inferno. Mit dem „i-Punkt“ und Zusatz, am Ende dieses Prozesses als „verrückt“ zu gelten. Als das, was auch den Tätern so gut gefallen hätte. Durch einen Augenspalt sah ich, dass alle andern bereits in einer andern Übung waren, während ich in dieser Weise da stand.

  

Und willst du jetzt von mir: so rede recht, –

so bin ich nichtmehr Herr in meinem Munde,
der nichts als zugehn will wie eine Wunde;
und meine Hände halten sich wie Hunde
an meinen Seiten, jedem Ruf zu schlecht.


Du zwingst mich, Herr, zu einer fremden Stunde.

  

(Rilke)

  

So schloss ich die Augen und nahm mich wahr wie in einem anderen Universum. Und fühlte auf einmal eine Hand an meinem Körper, so zart. Ich wagte nicht die Augen zu öffnen und fühlte, wie ich in den Arm genommen worden war und unglaublich sanft gestreichelt wurde. Ich konnte nichts mehr zurückhalten und wollte auch nicht mehr. Diese allerzarteste Saite in mir weinte und bebte – endlich, und ich ließ sie beben und weinen. Nun erkannte ich sie, wir hatten oft zusammen gesprochen und uns immer gut verstanden. Es erinnerte mich auch daran, wie gut manche Kontakte hier waren, und wie dunkel es nun geworden war, so, dass ich mich wie auf einem anderen Planeten wähnte. Heißt, das Geäußerte bzw. Gehörte hatte es geschafft, mich im Selbstgefühl aus der Gruppe herauszukatapultieren. Mich quasi von der Menschheit abzutrennen. Dies. Diese Fremdheitserfahrung .. Das war doch die Ausgangserfahrung. Und wie damals konnte ich kaum etwas anderes mehr als Augenschließen. Nicht im Sinne dessen, der ‚Wahrheit‘ auszuweichen, das gerade nicht. Aber im Sinne dessen, dass ich mich kaum mehr in der Lage sah und es auch nicht war, Blicke zu tauschen. Das war seinerzeit der Beginn gewesen, den Kopf zu senken. Mutter hatte es oft festgestellt, „Junge, warum senkst du den Kopf so?, es tut mir weh“. Und erst so viel später hatte ich eine Antwort erhalten, es hatte mit „Blendung“ zu tun: Die Verletzung des Ansehens (Ruf-Mord) hatte Einfluss auf das Augenlicht, auf das Jemand-Ansehen-Können.

  

Es kam immer mehr. Es flossen all die Jahre in Tränen aus. Und das wurde möglich, weil ich M, die mich hielt, vertraute; ich wusste um ihre Schmerzgeschichte bzw. meinte, Grundlegendes aus ihr verstanden zu haben, und ich fühlte in ihr unendliche Empathie und grenzenlose innere Zeit. Ich hatte den Kopf nun gehoben und bebte nicht mehr so spürbar, aber die Tränen liefen weiter ins Gesicht. Und es tat unendlich wohl, ihre Hand an meinem Gesicht, in meinen Tränen. Ganz umsichtig, ganz zärtlich, ganz Liebe-voll.

  

Plötzlich konnte ich – völlige Erschöpfung realisierend – kaum mehr stehen. Eine Matte wurde hereingeholt und ich legte mich darauf, an einen Rand des Raumes, während es für die andern weiterging. Sie strich mir übers Haar, ganz leise, ganz innig, ich war in doppelter Hinsicht in einer anderen Bewusstseinswelt, in einer furchtbaren und zugleich gegenteiligen.

 

  

II

 

 

Nur wenige Tage noch bis zu meinem dritten Seminarwochenende. Vier Wochen waren vergangen.

  

In der ersten Woche hatte ich in einer Art Dauererregung alle Energien hochgefahren, ausgefahren, die in mir auftauchten. Das hatte viel eingebracht. Es hatte den Punkt gegeben, nach dem ich das nicht mehr nötig hatte, aber die Erfahrung in mir eingetragen war. Jede Art von Furcht hatte sich, auch und gerade unter Menschen, so weit ausgelaufen, dass ich geradezu furchtlos agierte. Das war eine ganz neu empfundene Freiheit. Die mich überdies an präpubertäre Zeiten erinnerte. Ich war unglaublich lebendig in diesem Prozess. Es lässt sich theoretisch nicht begreifen, wie viel Leben in dieser Wunde ist –

  

Dann übte ich ein, diesen Energie-Level zu halten oder wenigstens bereit zu halten, und einem andern möglichst viel Raum zu geben. Also auch wieder deutlich von mir abrücken zu können. 

 

Ich hatte mich entschlossen, nicht aufzugeben, die Seminare fortzusetzen. Zu viel Verhinderung hatte es gegeben.

  

Aber was erwartete mich nun? Wie ließ sich in einer Gruppe bewegen, in der man von einer Person für „verrückt“ gehalten wurde, die das auch noch mitteilte. Von einem „Streueffekt“ war auszugehen. Und das hatte erheblich meine Antizipation, meine Vorwegnahme, meinen Zustand, mein Gefühl für „alles“, was mit diesem ‚Rahmen‘ zu tun hatte, eingetrübt (was an dieser Stelle ein sehr harmloses Wort ist) und entsprechend verändert. Wie würde ich mich nun verhalten können, in einer Gruppe aus Teilnehmern, der es um die Verbesserung von Erleben, der Empfindungs- und Beziehungs-Qualität ging. Und auf einem gewissen normativen Level ansetzte. Von Neuem – als sei es zum Verzweifeln – war ich auch in dieser Situation: Einerseits ein gewissermaßen überdurchschnittlicher Teilnehmer zu sein, andererseits unter den Level der Mindestanforderungen gedrückt worden zu sein. Wie ich dies kannte.

  

Was für eine bequeme Haltung, so etwas einfach zu äußern. Statt zu ergründen, zu fragen, zu forschen, zu lieben. Es gehört zur Liebe, so etwas über niemand zu sagen. Im Übrigen, was ist das eigentlich für eine Kombination, „verrückt“ und „Außenseiter“? Welche Haltung spricht da – „Außenseitern“ gegenüber? Mit was für Menschen hatte ich es auch hier zu tun? Eine uralte, reaktionäre, einen andern bloß aus dem Weg räumende „Figur“ war es, die da geäußert worden war. Und sich wem und was zuordnete? Eine Gedankenfigur, die zu den gemeinsten, wirksamsten, ethisch niedrigsten Verleumdungen gehört. 

  

Dabei konnte es auch sein, dass ich es mit einem „Phantom“ zu tun hatte. Dass alles, wie gesagt, gar nicht auf meine Person bezogen gewesen war. Es gibt mehr als einen Anhaltspunkt dafür: Diejenige stand nach einer Übung neben mir, und als sich jemand zu suchen war, für einen Tanz zu zweit, wandte ich mich sofort sehr entschieden von ihr ab, ich meinte zu spüren, dass sie sehr irritiert darüber war. Aber das ist es eben: Es gibt keine zuverlässige Information. Ich müsste schon fragen, und habe es wieder mit etwas zu tun, das sich schwerlich erfragen lässt. So war es auch einst. Ich verfügte über beachtliche kommunikative Fähigkeiten, aber die Situation erlaubte keinen Kontakt. Was konnte ich jetzt machen? Ihr irgendwann diesen Text schicken ? .......

  

Wohl nein. Es geht darum, mich endlich energetisch voll zu realisieren. Ich war mit einer größten Furcht konfrontiert worden. Ich war nicht der Erste, der damit konfrontiert worden war, und werde nicht der Letzte sein ....... Offenbar treibt es Menschen hin zu einem Extrakt als Maximum, das sie entweder gehändelt bekommen oder vor dem sie untergehen. So kam das Maximum zum Ausdruck:

  

Wenn es trotz aller Mitte und realisierten Mittel in das kollektiv geschlossene Urteil „verrückt“ dgl. kippt. Die Bewegungen eckig werden, die Psyche vernebelt und vertrümmert (opak), die sich schließenden Poren zu Zangen für andere werden.

  

Wie in der Ausgangssituation, soll ich „unmöglich“ gemacht werden für eine ‚Gemeinschaft‘, entfernt werden.

  

Wurde so viel grober gemacht, als ich bin. 

 

Einrastung in den „tödlichen Mechanismus“ passierte oft so: Ich reagierte auf eine Freundlichkeit – auch – mit einer ‚Abweichung‘. Und war danach so prädisponiert – mit hinreichend viel Schreck –, dass irgendetwas ‚Verdächtiges‘, das extern erscheint (z. B. geredet wird), nun wie mit einem Schmiedehammer gegen mich ins Innere gehauen und gebrannt wurde.

  

Du bist der [...] Bange,

der aller Dinge Sinn beschwert. 

 

(Rilke)

  

Wenn du dieses ‚Monstrum‘ bewältigst (energetisch überschreiben kannst), bist du gewissermaßen frei. Das ist die Aufgabe.

 

 

III

 

 

M, die Zeuge wurde von

 

meinem

innersten 

 

Beben

 

  

Liebe M

  

ich möchte noch etwas zu Samstagnachmittag sagen:

 

Es gibt Erfahrungen in meinem Leben, die    A B S O L U T   GRAUSAM    waren, mit denen ich – bis heute – im Grunde völlig allein bin. 

 

Ich hatte solche Partnerschaften, wenn ich eine hatte, in denen ich über Problematisches gut sprechen konnte. Auch Freundschaften zu Männern, in denen das Gespräch mitunter äußerst weit geführt wurde. Doch in den entscheidenden Momenten, als der Schmerz akut ausbrach, war nie jemand da.

  

Jedenfalls nicht dann, wenn ich es wirklich gebraucht hätte.

  

Dazu kommt, dass die Wunde so groß ist, dass ich anderen Menschen entweder erst gar nicht zutraute, damit umzugehen, oder ihre Zuwendung nicht annehmen konnte.

  

Du hast ja gesehen, dass ich die Zuwendung von C – in der Situation und wie sie kam – nicht annehmen konnte.

  

Es ist kein Vorwurf. Es ist eine schwierige Situation mit einem solchen Schmerz und wenn man so gestrickt ist wie ich.

  

Es ist nun so, dass deine Anwesenheit mir geholfen hat. Ich hatte subjektiv den Eindruck, du warst da. Und zwar in den entscheidenden Momenten. Die Art, wie du mich im Arm hieltest und auch deine Hand war so, dass es, subjektiv empfunden, unendlich guttat.

 

Es hat sich zutiefst in mir ‚abgespeichert‘, auch deswegen, weil ich einmal ganz durchlässig war.

  

Das wollte ich sagen. Nicht mehr. Und nicht weniger.

  

Natürlich kannst du etwas dazu schreiben. Aber du brauchst es wirklich nicht. Du hast alles gesagt, indem du dich in den entscheidenden Momenten zugewendet hast, da warst – und bliebst.

 

  

IV

  

 

Ich erinnerte Sätze und Bruchteile von Sätzen (der Dozentin Cordula Bruch, Ärztin und Tänzerin), die kurz vor jener Äußerung gefallen waren (umso unverständlicher, jene Worte zu diesem Zeitpunkt überhaupt in den Mund genommen zu haben):

  

„es gibt keine andere Möglichkeit als zu überschreiben

 

andere Filter durch Erleben

  

zu schaffen“

 

 und:

 

autonome Zellen – nicht bekämpfen

 

sie sind nicht falsch

 

werden sonst immer autonomer –

 

möchten nicht falsch sein, machen so viel –

  

das Beste 

 

sich mit ihnen zu verbünden“

  

Weiteres:

 

„ich lehne es ab, jemanden als krank zu definieren

  

Anmaßung

 

das sind so komplexe Strukturen

  

mit jedem Stempel (Trauma etc.)

 

werden       x Möglichkeiten genommen

  

*

 

eine Diagnose

  

ist eine Einschränkung der Möglichkeiten“

 

*

 

Furcht

 

auf dem Meer zu ertrinken 

 

sich sofort rhythmisch zu koordinieren

 

überfordert dich

  

*

 

es bleibt – oder wir ändern es

  

durch

 

neue synaptische Verschaltungen

  

und die ziehen wir aus Begegnungen

 

*

  

„man kann keine Angst reduzieren, indem Angst reduziert wird

  

nur durch Erfahrungsfülle

 

*

 

„Wir sind diejenigen, die die Informationen geben“

 

 

V

 

 

Nach allem Durchgang

 

‚sollte‘ da kein Zweifel an sich sein – in der Selbst-Aura.

  

Die einstige Wunde, die noch da ist ..., beinhaltet, dass sich im zutiefst Inneren Furcht und Hemmung (Scham) ablagerte. Das gilt es mit aller Gewalt an die Bewusstseinsoberfläche zu bringen und energetisch auszudrücken, in den Kosmos zu jagen ... Die GANZE PERSON ist – wie in einem Akt des Wahnsinns – gefordert, sich die hemmende Kultur, in der sie heranwuchs, hinauszutreiben, damit sie und ALLES fließe – Blut, durch die Adern, personale Macht (Lebenskraft), die keinem andern wehtut, durch die Augen, Samen, im Grunde aus allen Poren. Aus TIEFSTEM INNEREN gilt es Narbenreste, Phobie, Allergie, alles Mögliche ..., Reste dieser „Idioten“, von der jeweiligen Kultur hervorgebracht, flüssig zu machen, auf dass es verdampfe und auf den Gräbern etwas anderes errichtet, ja getanzt werde. Nur so kann gegebenenfalls RESTLOSE, echte Sanftheit entstehen. Das, was ich immer nur gewollt hatte: Zärtlichkeit

  

Auch wenn zu optimistisch gedacht, es ist den Versuch immer wert: Wir bestimmen unsere persönliche Evolution.

 

 

[...]

ich verlier dich an dich, das

ist mein Schneetrost,

  

sag, daß Jerusalem i s t

  

(Paul Celan)

 

  

Nein nein, zu dem, worum es hier geht – Befreiung –, brauchen wir kein Jerusalem und wofür es steht, und das meiste andere auch nicht.

 

  

VI

 

 

ich nehme einen Kosmos in einem Herzschlag wahr

und

lasse mich ‚pathologisieren‘ durch irgendwo Aufgeschnapptes, das dann zur Selbstsuggestion wird, der ich nicht mehr entgehen kann .......

  

*

  

Feinstwahrnehmungen erschließe ich für mich allein.

  

Negativstem und Grobstem ausgesetzt im Nahkontakt.

 

  

VII

 

 

Ulrich Schödlbauer über „Die Pole“:

[...] wenn ich es Ihren Briefen nicht entnähme, so wüsste ich es aus Ihren neuen Texten: da geht etwas vor, etwas Stürmisches zumindest, etwas, von dem Sie gar nicht anders reden können, als müsse sich gerade Ihr Leben ändern. So etwas teilt sich mit, es macht die Mitteilung kostbar, nicht nur im Sinne der Erstehungskosten (in diesem Fall auf Seiten des Autors), sondern auch des Kostens: da ist ein Geschmack, der auch nach vollendeter Lektüre nicht weggeht, aber eben kein Nach-Geschmack, sondern etwas, das bleibt. 

Inzwischen habe ich auch "Die Pole" gelesen und kann die Situation nachempfinden. Allerdings hielte ich es für unfair, Ihnen vorzuenthalten, dass mich die Darstellung nicht ganz überzeugt. Das Bild der wieder und wieder aufgehenden Wunde hat etwas ungemein Suggestives, gerade in diesem Zusammenhang, aber könnte es nicht sein, dass es, gerade aufgrund seiner überwältigenden Suggestivität, etwas verdeckt? Es ist keine ganz ungemeine Alltagssituation, die Sie schildern: man hat sich Menschen, von denen man wenig weiß, ein Stück weit geöffnet, weiter als sonst, weil die Situation oder die Konstellation es ergab und sogar forderte, man hört etwas, was nicht für die eigenen Ohren bestimmt ist, und bezieht es unwillkürlich auf sich, nein, auf den eigenen wunden Punkt. Worin besteht dieser Punkt? Nun, zunächst darin, dass man sich weiter geöffnet hat als gewöhnlich, dass man in latenter Schambereitschaft der Dinge harrt, die sich daraus ergeben, dass man der Scham dadurch die Herrschaft über sich selbst gegeben hat und diese es 'schamlos' ausnützt. Die Scham ist schamlos, ganz recht, zumindest diese Scham, gerade ihrer gilt es sich nach den Regeln der Sozialität zu schämen und sie zurückzudrängen in den Käfig des erwachsenen Weltverhältnisses, wie Sie es dann ja auch tun. 

Aber erst einmal geben Sie ihr Raum, indem Sie sie mit einer Erzählung verbinden. Es ist die Erzählung, die den Helden macht: eine Narbe wird berührt, bestaunt, erklärt - darin besteht die Erzählung, gut, aber es ist nicht irgendeine, auch keine ganz und gar analytische, sondern eine Heldenerzählung, denn, nochmals: die Narbe macht den Helden. Und nun geschieht das Wunder, die Narbe bricht auf, sie wird wieder zur Wunde, sie beginnt zu bluten, sie heiligt die Szenerie, sie ist der allgegenwärtige Mechanismus, sie zeigt den Helden in Aktion, so dass jeder ihn sehen kann. 

Mir scheint, dass in Ihrer Erzählung alles aufs Gesehenwerden hinausläuft, vielleicht auf ein allzu lange hinausgezögertes Gesehenwerdenwollen. Sollte darin die 'Ursituation' bestehen? Hat man damals, als alles begann, nicht genau hingesehen? Ist da ein Rest geblieben, den die Erzählung, so wie Sie sie abliefern, schwungvoll versteckt? Man sagt sich als Leser: Sicher, gut, solche Dinge geschehen, ein intaktes Familienleben sollte die Mittel liefern, sie wegzustecken, warum geschah in diesem Fall etwas anderes? Umzüge, vor allem solche wie der von Ihnen geschilderte, greifen in Familienkonstellationen ein, verändern sie nachhaltig. Was gerade noch, für das Kind, intakt war und weiterhin intakt erscheint, vielleicht auch wirklich ist, enthält vielleicht jetzt, immer aus der Bedürfnisperspektive des Kindes, einen Mangel, der kompensiert werden muss, vielleicht sogar kompensiert werden kann, warum nicht durch eine Niederlage 'draußen', die unverstanden bleibt, vielleicht sogar vergraben wird, und dennoch am Ende die Erzählung abgibt, die alles erklärt? [...]

 

  

Ralf Willms:

[...] ich danke Ihnen für diese bedeutsame Mail. Zu den Hauptsträngen in meiner Kindheit gehört, Aufmerksamkeit und Liebevolles erfahren zu haben durch Sich-Zeigen, gesehen werden. Diese Dimension ist extravertiert und – was kein „Todesurteil“ ist, es hat auch Vorzüge – recht oberflächlich.

[...]

Die ‚Urszene‘ im Hinblick auf die Verletzung mit 15 ist das Gesehenwerdenwollen. Es wurde, wie Sie nun wissen, mit sozialer Vernichtung „beantwortet“. Im Gesehenwerdenwollen in jener Zeit liegt mein Anteil, bin ich „schuldlos schuldig“.

Von daher lässt sich u. a. das Täterverhalten erklären.

Ich habe manches Mal gedacht, es hat Vorzüge, dass diese Art des Gesehenwerdenwollens beendet wurde. Denn ich war nun auf die ‚Tiefendimension‘ im Alleinsein verwiesen und verzweifelte grundlegend nicht, weil ich Anknüpfpunkte (‚Ressourcen‘) in mir fand.

Die andere Seite davon ist, dass die Verletzung zu groß und – über Jahrzehnte betrachtet – zu verhindernd war.

Mag sein, dass in „Die Pole“ Grundlegendes weitgehend unbewusst auf das Gesehenwerden hinausläuft. Dass mit dem Übergang von der Narbe zur Wunde etwas eingefordert wird, was nie stattfand, nämlich dass jemand sich die Wunde ansieht und mir hilft.

An dieser Stelle wird die Familienintaktheit brüchig.

[...]

Dass die Wunde auch etwas verstellt (nämlich unter anderem Schwierigkeiten, die ich auch vorher hatte), habe ich glücklicherweise früh gemerkt. In den Großtexten „Nordschwarzwald. Herkunft“ und „St. Peter Ording“ wird dies thematisiert.

Dennoch bleibt der verhindernde Einschnitt. So bleibt auch der Kontext in „Die Pole“, das Zugrundeliegende schmerzhaft. Ich dringe bei manchem Kontakt, der Potenzial hätte, nicht ‚mit meinem Licht‘ durch. Habe von vorneherein anderen den Vortritt zu überlassen, weit mehr mit der „schamlosen Scham“ befasst als mich mit dem jeweiligen Menschen selbst befassen zu können.

 

Was bei all dem entstanden ist, weiß ich zu schätzen.

[...] 

 

 

Ulrich Schödlbauer:

[...] Ein anderer Komplex betrifft die Erwartungen, die Sie und Ihre Mittänzer an die [...] Erfahrung richten. Vielleicht kommt dem switch ja auch der Umstand zugute, dass hier jeder Hilfe sucht und das Hilfe-Geben dem gegenüber sekundär, als Mittel zum Zweck auftritt. Der Moment, in dem jeder wieder mit seinem Elend allein ist, liegt da nicht so fern.

 

 

Ralf Willms:

[...] auch Ihre letzte Mail war sehr hilfreich. So ist es auch in diesem Kontext allerdings die Frage, was an wirklichem Hilfe-Geben in den Dispositionen der Einzelnen liegt. Wenn dieser Teil einer Disposition nämlich schwach besetzt wäre, würden Kippfiguren – wie ich sie erlebte – verständlich bzw. erhielten eine Erklärung außerhalb m/einer Disposition.

 

  

VIII

 

 

„Figur der Enge, des angstvoll Auf-einen-Punkt-gebracht-Seins, von dem es kein Entrinnen gibt, es sei denn im Vergehen selbst.“

(Ulrich Schödlbauer) 

 

*

  

„verrückt“ – nur ein Symbol für absolute Ausgrenzung.

  

*

  

auch eine Art „Schutzschild“, hinter dem ich für mich sein möchte?

 

*

  

IM „geschlossensten kollektiven Allerverrücktesten“ frei sein. Das ist das Ziel. Kurz gesagt: seine Auflösung.

  

*

  

je weniger im Innern IM Kontakt ‚tabuisiert‘, desto freier

  

*

 

die Häufigkeit der Nägel radikaler Ausgrenzung INFOLGE einer Wundenzufügung erbrachte, dass es sehr rasch und übergangslos in den ‚tödlichen Mechanismus‘ umschlagen kann

  

*

  

mit einer durchgängig existenziellen Disposition in einem auch-normativen Kontext; das Schönste wie das Schlimmste liegt da nicht weit. Entgegengesetzte Pole

  

*

  

eine derartige Kippfigur kommt dann, wenn noch kein echtes Vertrauen gefasst werden konnte. Und das hat beiderseitige Gründe.

  

*

  

historisch einen Schritt weitergehen

  

*

  

„verrückt“, dieser allgemeine Topos, Form der Bannung:

„Bann bezeichnet die juristische oder religiös aufgeladene Sanktion des Ausschlusses eines abweichlerischen Individuums oder einer Gruppe zum Zwecke der Aufrechterhaltung einer als legitim angesehenen Ordnung.“

 

Es geht um die Nicht-Bestätigung solcher Ordnung.

  

*

  

„So kämpft er gegen seinen eigenen Schatten, gegen den Rivalen, der niemand anderer ist als er selbst.“

(Ulrich Schödlbauer) 

 

 

IX

 

 

im Abstand

 

ach ja, das „Verrückt-Sein“. Solcher Ernst daran gebunden .. Schattenseite des Ernstes, das er von sowas gebunden werden kann. Es betteln noch immer die reaktionärsten, repressivsten Kräfte. Wunden auch dies. In allem doch ein Gegenteil: präzis, so weit vorgedrungen. Erschlossen. War alles nur eine Spielart der Scheu? Des „Prüfsteins“? Der Weiterentwicklung durch „nicht integrierbare Sprengung“? Und doch sind zuhauf solche Tendenzen, Vollzüge dieser Art weiterhin im öffentlichen Raum. Als büße an so vielen Stellen der Welt noch immer ein Christus, ohne „als-ob“, und jenseits von religiöser Erleichterung.

 

Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte;
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau’s?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe –: abwesender Hammer holt aus!

  

(Rilke)