Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird –
Annie Ernaux
Diese Zeilen sollen so etwas wie einen »Fahrplan« durch den Exzess darstellen. 9 Teile mit 93 Kategorien wurden erschrieben (Stand November 2020), jede Kategorie enthält eine bestimmte Zahl von Texten. Ich habe jedem Teil – zur Orientierung – eine Überschrift gegeben und möchte knapp anführen, was sich in jedem Teil befindet (in der Art einer Auswahl, punktuell, in keinster Weise vollständig).
Teil 1
Verletzte Liebe
Ausgangspunkt, mit dem Exzess zu beginnen (am 1. April 2014) waren zwei Begebenheiten.
1 Das Wiedersehen mit der Jugend-Liebe im 50. Jahr, das »genauso« oder in anderer Weise schiefging wie in der Jugend.
2 Die Selbsttötung meines Nachhilfeschülers Carl Christian Sommer. Ich nahm an ihm Wesenszüge und Verhaltensweisen wahr, die mir an mir selbst bekannt vorkamen –.
Jeder Text in diesem ersten Teil beginnt mit einer Zeile in Kursivdruck oder Fettdruck. Und gibt damit den Ton, die Richtung an.
Tanztexte 1 und 2
Tanz ins Leben
Die »Tanztexte« wurden 2016 geschrieben und vollziehen also, vom ersten Teil aus gesehen, einen Sprung von zwei Jahren. Mit der emotionalen Bewegtheit in den Texten ändert sich auch ihre Form: Einrückungen, kurze Absätze, trennende vielmehr verbindende Sonderzeichen ergeben ein mitunter verändertes Schriftbild. Manchmal setzt gedichtartiges Sprechen ein.
Teil 2
Ausbruch von Wunden in sozialen Kontexten
Der zweite Teil setzt in 2014 an. Es werden Unterschiede ersichtlich zu Teil 1: Thematisiert wird mehr noch die Fragilität menschlichen Daseins und detaillierter noch wird erschlossen, was einem Menschen zustoßen kann und wie es ihn verletzen kann. Damit einher geht auch eine konturierte Sprache im Hinblick darauf, was das öffentliche Leben an problematischen Nuancen bereithält. All das erscheint eingebettet in eine »poetische Reise nach innen«. Der Teil schließt mit einer Reise ans Meer.
Teil 3
Die gegenwärtige Identität
In Teil 3 atomisiert der Text allmählich. Und weist dabei aber nicht die Kohärenz des Erlebens in den Tanztexten auf.
Schauplatz ist einige Male das Freibad.
»Die Frau« verbleibt oft im Bereich der Sehnsucht oder der Erinnerung.
Gelegentlich erscheinen Zitate. Das »Gespräch mit den Dichtern« wird etwas sichtbarer.
Auch dieser Teil wird, wie die beiden ersten, durchzogen von mancher Jugend- und Kindheitserinnerung.
Ein Text wie »Schriftsteller« sucht die gegenwärtige Identität zu taxieren. Es ist auch die primäre Bewegung dieser Texte.
Teil 4
»Jahrestage«
In Teil 4 beginnt es, dass eine Gliederung durch die Tage eines Monats vorgenommen wird. Und zwar ein ganzes Jahr lang. Vom 1. Oktober 2016 bis zum 30. September 2017. Gedacht wurde dabei an die »Jahrestage« von Uwe Johnson.
Die Atomisierung schreitet fort – Sternchen, Schrägstriche, weitere Sonderzeichen tauchen auf oder nehmen zu. Dabei kann sich der Eindruck einstellen, so dissonant dasjenige auch anmutet, dass jedes Zeichen einer geheimen Ordnung folgt und seinen ebenso lockergefügten wie festen Platz im Textgewebe hat.
Kritik an gesellschaftlichen Vorkommnissen wird direkter.
In Teil 4 setzt eine Liebeserfahrung ein, die auch Teil 5 bestimmt.
Teil 5
Neue Liebe
Durch die Texte hindurch wird ersichtlich, was es macht, wenn eine neue Liebe erlebt wird.
Doch gezeigt werden auch allmählich Anklänge der Entartung und Entmenschung durch eine Liebesbeziehung.
Es vollziehen sich immer wieder Anläufe, etwas, mitunter das Gleiche, nochmals neu zu verstehen. Anläufe, die mich heute, wenn ich in diese Texte hineinsehe, schon mal nerven - - - - - Doch jeder einzelne Text weist einen Mehrwert auf.
Das alles zeigt – auch –, mit welchem Willen, welcher Sehnsucht, welchem Bedarf dasjenige angegangen wurde.
Das Erleben korrespondiert zeitweilig mit dem in den Tanztexten.
Nahezu ständiges Unterwegssein hinterließ zusätzlich Spuren im Fühlen, im Denken, in der Sprache.
Teil 6
»Jahrestage II«
Der Stil atomisiert zeitweilig hin zu einem Maximum. Sodass im Extremstfall nur noch einzelne Wörter dastehen, die mit dem vorhergehenden und nachfolgenden Wort kaum mehr etwas zu tun zu haben scheinen.
Ein zweites Jahr vollzieht sich in der Gliederung von Jahrestagen, mit jedoch verändertem Gliederungsprinzip: vom 1. Oktober 2017 bis 30. September 2018.
Eine neue Liebe erscheint.
Teil 7
Das Lebende
Einige Texte erscheinen unter dem Titel »Aus seinem geistigen Testament«.
Neuerliche Beschäftigung mit Buddhismus; einige Texte nahmen etwas davon auf, erreichen aber eine spezifische Ausprägung.
An anderen Stellen hingegen wird etwas spürbar vom Toben und Tosen einer aufgebrachten Existenz.
Teil 8
Lichthof
Ein drittes und letztes Jahr nach der Idee der »Jahrestage« kommt zur Darstellung: vom 1. Oktober 2018 bis zum 30. September 2019. Zum Gliederungsprinzip gehören Titel mit Monatsnamen in anderen Sprachen.
Eine nochmals neue Liebe setzt ein.
Zwei Reisen nach Griechenland.
Die Lichthof-Texte erscheinen = Notate, die erstmals Motiven und Themen zugeordnet werden, um eine gewisse Ordnung und Überschau zu erreichen.
Teil 9
Erweitertes Zu-sich-Kommen
Angesichts der »Corona-Zeit« und dem weitgehenden Wegfall öffentlicher Angebote kommt es schon von daher zu einer veränderten Lebensform, was Einfluss auf die Texte hat.
Auch in diesem Zeitraum setzt eine neue Liebe ein.
Zum anderen werden viele Tage in »klösterlicher Stille« allein verbracht.
Die »Marcel-Geschichten« versuchen auf einer noch anderen Ebene drängende Themen zu verarbeiten.
Noch ein paar Worte zur Orientierung:
Interessant ist sicher auch, welche Texte draußen blieben, im Exzess nicht veröffentlicht wurden. So finden sich im Radius des Exzess
sog. Beibücher. Sie enthalten »Gedanken«, die mir entweder zu gewagt oder zu schwach erschienen, um sie zu veröffentlichen. Dabei war ich im Veröffentlichten bereits an eine Grenze gegangen, die viele übliche Schwellen und Grenzen hinter sich ließ.
Zu allen Teilen existieren auch Tagebücher.
Es findet sich überdies eine Sammlung mit biographischem Material und fortgeschrittenen Auswertungen – aus »Zeiten«, die sich nur noch im Kopfe und im Nervensystem befinden.
Die Beziehungen hätte ich gerne ausführlich dargestellt. Aus Freude und aus Liebe am Bewahren.
Oder: In der ersten Zeit des Exzess (2014 und 2015) wurden rund 1.200 Texte geschrieben, die zu einem Viertel Eingang fanden. Einzelne Sätze von rund 650 weiteren Texten (innerhalb der 1.200) wurden aufgenommen, bevor ich die Unternehmung abbrach (beim Stand von 950 Texten). So kommt es zu Titeln wie z. B. »922«.
Es wurde auch versucht, Texte vor der Zeit des Exzess einzubinden, wenige Versuche ließ ich stehen, bevor ich zu der Einsicht kam, dass Weiteres nicht passt.
Und, was ich sehr bedaure: Unter dem Stichwort »Erotik« (Lichthof-Texte) finden sich Wahrnehmungen und Formulierungen, die ich mich nicht traute einzustellen. Sicher besser so, sagte eine Stimme. Eine andere Stimme sagte, es würde nochmals ein Stück weit befreien, dies zu veröffentlichen.
Warum das alles?
Ich hatte eine Vision, dass es gut sei, wenn der Mensch sich in allen Zuständen zeige.
Weil er sich und den Menschen dadurch näherkomme.
Traurigkeit und Trauer befiel mich bei der Vorstellung, dass mein Schreiben, wie ich einmal hörte, das Ungute vermehre.
Ich hatte Schriftsteller so sehr gemocht, die sich mit ihren Texten in allem aussetzen. Ihrer Not und ihrem echten Wollen. Ein Schlüssel für mich stellte da »Lenz« dar von Georg Büchner.
Gehalte in der Form, wie sie in der jeweiligen Zeit entstanden und zur Veröffentlichung gebracht wurden – wurden weit überwiegend nicht mehr verändert. Nur einzelne Texte wurden nach einer gewissen Zeit noch einmal aufwendig überarbeitet. Alles andere hätte nicht in mein Leben hineingepasst: eben Texte, die 2, 4, 6 Jahre alt sind, zu überarbeiten.
Und auch: Nach einer Zeit hätte ich gerne so manches noch eingefügt, in bestimmte Teile (insbesondere bei den »Tanztexten«), aber es wäre technisch nicht leicht für mich gewesen und vor allem: Das Bewusstsein war bereits an einer anderen Stelle; auch das ließ ich.
So kann es passieren, dass ich heute schon mal auf eine Stelle stoße, die mir – im äußersten Fall – selbst nicht mehr verständlich erscheint. Wie komme ich damit zurecht? Ich versuche Respekt zu entwickeln vor der Existenz, die ich in der Zeit war und die dies schrieb.
Schwerer noch fällt mir die Toleranz, wenn ich den Inhalt gut verstehe, aber auf »Mängel-Formulierungen« stoße. In früherer Zeit hätt' ich mir 'die Haare raufen können' und versuche nun Derartiges zu lassen.
Vor allem in den Teilen 5 bis 8, also von 2016 bis 2019 wurde derart gelebt, dass das »Projekt« völlig unabsehbar erschien. Und – selbstverständlich – nahm der Exzess Entwicklungen, die vollständig unabsehbar für mich waren; was ja immer so ist, wenn jemand »nicht programmatisch«, sondern geöffnet schreibt.
In dieser Zeit erinnerte mich der Exzess an meine Promotion. Auch da drohte ich nicht fertig zu werden . . . vor lauter Interesse an allem, was damit zusammenstand. Aber mir dämmerte auch, dass dies nicht der einzige Grund sei. Menschen mit ausgeprägten Wunden können, dem Klischee nach, Mühe haben, »mit etwas fertig zu werden«. Abgesehen davon, dass »fertig werden« eine Vereinbarung (mit anderen oder sich selbst) darstellt. Bekanntlich ist nichts fertig. So lässt sich genauso denken: dass alles bereits fertig sei. Nun bezeichnet »fertig werden« für mich im Exzess – all das bedenkend –, 10 Teile mit 109 Kategorien auszufüllen, die mir die Möglichkeit boten, über einen langen Zeitraum »meine Existenz auszuschreiben«. Das würde ich gerne weiter tun und in dem Sinne fertig werden.
Der Exzess ist – auch – die »persönliche« Ausschreibung dessen, was in der Doktorarbeit auf der Ebene von Theorie verhandelt wurde.
2 Hauptmotive, an denen kein Leben vorbeikommt:
Das Motiv der Wunde
Das Motiv des Eros
und daraus entstehend: Einkehr, Weisheit, gegebenenfalls.
Nach fast 7 Jahren Exzess-Schreiben dachte ich z. B. manchmal, ich bin noch immer an dem »Trauma-Thema« dran, aber es gab auch dabei Entwicklungen.
Es gab einige Wendungen innerhalb des Gesamtprozesses. Diese Wendung möchte ich noch nennen: Von der letzten Augustwoche an bis Mitte Oktober 2020 strukturierte ich meine Wohnung neu. Das heißt, rund 70 Prozent dessen, was sich darin aufhielt, kam heraus. Ich bin nun ausschließlich von Gegenständen umgeben, mit denen ich noch umgehen möchte. Diese Art der Leere und diese Art der Reinigung hatte auch Auswirkungen auf mein Schreiben.
Rückblickend lässt sich sagen, und anders kann es auch kaum sein, dass im Exzess – einem zeitlich so langfristig angelegten Projekt – verschiedenartige Text-Zustände zum Ausdruck kommen, ein verschiedenartiges Bei-sich-Sein.
Und zuletzt noch etwas zum Blick auf zurückliegende Texte: Es stehen in diesen Texten eben nicht irgendwelche mathematischen Formeln, hinter denen ein Mensch sich versteckt, jedenfalls nicht sichtbar wird, sondern hier – im Exzess – wurde etwas riskiert: das ungesicherte Innere eines Menschen.
Im November 2020, Ralf Willms